Erlebte Zeitgeschichte: Eine Rettung in Ermatingen im Jahre 1944
von Willi Sutter, Konstanz
Donnerstag, 20. Juli 1944 - Fliegeralarm. Der soundsovielte Luftangriff auf Friedrichshafen. In meinem Lehrbetrieb war ich zum Luftschutz eingeteilt. Vom Dach eines Werkschuppens beobachteten wir am hellen Sommerhimmel alliierte Flugzeuge, die offensichtlich auf dem Rückflug nach Westen waren. Plötzlich wurde bei einer der Maschinen eine lange Rauchfahne sichtbar und Sekunden später entdeckten wir eine Reihe weißer Punkte hinter dem Flugzeug. Uns war klar, dass sich die Besatzung mit Fallschirmen retten wollte und ihre Landung in unmittelbarer Nähe erfolgen musste. Mir ist nicht mehr in Erinnerung, wie viel es waren - sechs oder sieben. Der Wind trieb sie in Richtung Wollmatingen/Fürstenberg bzw. dem Wollmatinger Ried und dem Rhein zu.
Den weiteren Verlauf wollte ich miterleben und meldete mich bei meinem Vorgesetzten kurz ab. Mit dem Fahrrad fuhr ich in Richtung des Nächstlandenden. An einer von der Wehrmacht errichteten Straßensperre war die Fahrt zu Ende. Ich stellte mein Fahrrad ab und wurde kurz darauf Augenzeuge eines grausamen und unvergesslichen Geschehens, etwa dort, wo die Hardtstraße in die Fürstenbergstraße einmündet.
Geführt von Soldaten wurde einer der abgesprungenen Flieger von der Straße her durch die empörte und schimpfende Menschenmenge hinter ein Wohnhaus zu einem in einigem Abstand stehenden Schuppen gebracht. Der Flieger in seinem grauen Overall wurde mit dem Rücken an die Giebelwand gestellt. Ich befand mich in etwa 15 Meter Entfernung von dieser Stelle und sehe heute noch vor mir, wie der junge Mann seine Kombination etwas öffnete, als ein Feldwebel aus ungefähr fünf Metern Entfernung seinen Karabiner anlegte und schoss.
Der Flieger fiel sofort zu Boden.
Inzwischen war den Umstehenden bewusst, dass es sich bei dem Erschossenen um einen US-Amerikaner handelte. Bekannt war auch, dass gemäß einem sogenannten Führerbefehl alle alliierten Flieger sofort standrechtlich zu erschießen seien, wenn sie nach einem Bombenangriff auf die Zivilbevölkerung in deutsche Gefangenschaft geraten würden.
Erst nach dem Krieg hat man dann erfahren, dass es diesen Führerbefehl zwar nicht gab, die verantwortlichen „Wehrmachtsoffiziere sich jedoch auf einen Erlass des Reichsführers der SS Heinrich Himmler vom 10.08.1943 stützen konnten: ,Es ist nicht die Aufgabe der Polizei, sich in Auseinandersetzungen zwischen deutschen Volkgenossen und abgesprungenen englischen und amerikanischen Terrorfliegern einzumischen.' Das war ein Aufruf zur Lynchjustiz."
Von den übrigen Besatzungsmitgliedern habe ich nichts gesehen. Es sollen noch weitere von deutschem Militär getötet worden sein. Man hat später erfahren, dass einer der Flieger von einem deutschen Zollboot aus dem Wasser geholt und gefangen genommen wurde. Ein weiterer ist mit seinem Fallschirm im Rhein ertrunken.
Nur zwei Mann der Besatzung haben die rettende Schweiz erreicht. Der Altfischereiaufseher Hans Ribi von Ermatingen berichtete später, wie er zu dieser Zeit vor der Schiffslände fischte und den ersten im Wasser gelandeten Amerikaner im sogenannten Westerfeld mit großer Mühe in sein Boot zog, zur Rettung des anderen reichte es ihm nicht mehr. Er musste wie ein Gejagter zum Landungssteg zurückrudem. Glücklicherweise konnte er die Verfolgung durch das deutsche Zollboot für sich entscheiden und den Geretteten unter dem Jubel der Ermatinger, die das beobachteten, ans sichere Ufer bringen.
Zusammen mit seinem Bruder Fritz hat Hans Ribi später auch noch den ertrunkenen Amerikaner aus dem Seerhein geborgen. Zunächst in Ermatingen beerdigt, soll er später in seine Heimat überführt worden sein.
Seine großartige Rettungstat hat Hans Ribi noch manchen Kummer eingebracht. Er musste sich, wenn er mit seiner Gondel auf dem See war, im Laufe der restlichen Kriegsmonate immer wieder Unflätigkeiten und Drohungen seitens der deutschen Mandatsträger auf dem Rhein anhören.
Über ein ertrunkenes Besatzungsmitglied (Leutnant G. T. Hunter) befinden sich im Gemeindearchiv der Insel Reichenau Akten, aus denen seine Beerdigung auf dem Oberzeller Friedhof und der im Jahre 1946 stattgefundenen Überführung auf einen US-Militäfriedhof hervorgehen.
Am 27.04.1994 anlässlich des 50. Jahrestages der weitgehenden Zerstörung der Stadt Friedrichshafen durch die britische Luftwaffe brachte die „Schwäbische Zeitung" in Friedrichshafen eine umfangreiche Sonderbeilage heraus. Der verantwortliche Redakteur, Anton Fuchsloch, berichtete dazu u.a. auch über den erwähnten Angriff: ' [...] „Zwei Tage darauf, am 20.07.1944, sollten Friedrichshafen und seine Industrie dann nur noch ein einziges Trümmerfeld sein. 317 B-17 und B-24 (US)-Bomber warfen nochmals etwa 1300 Spreng- und 400 Brandbomben auf die Stadt. [...] Etwa 300 Menschen starben, 83 allein in einem öffentlichen Luftschutzraum in der Friedrichsstraße. Es gab über 100 Verwundete, und fast die Hälfte, nämlich rund 3.500, der noch in der Stadt verbliebenen Bewohner wurden obdachlos, weil viele weitere Wohngebäude zerstört wurden. Sieben Bomber wurden abgeschossen." [...]
Weder im zertrümmerten Friedrichshafen noch in dem glücklicherweise von Kriegsfolgen verschonten Konstanz konnte jemand ahnen, dass am gleichen Tag, also am 20. Juli 1944, das Sprengstoffattentat auf Hitler in seinem Hauptquartier Wolfsschanze in Ostpreußen durch Claus Schenk Graf von Stauffenberg missglückte. Der folgenschwere Ausgang ist bekannt. Der Krieg ging weiter, er trat ein in seine allerdings noch neun Monate dauernde Endphase mit Millionen von Opfern und gewaltigen Zerstörungen auf allen Seiten.
Quellenangabe: Der Text dieses Berichts von Willi Sutter ist entnommen aus dem Delphin-Buch, Bd. 6, S. 23, Labhard Verlag Konstanz (2000)
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Der Altfischereiaufseher Hans Ribi |